Bilderströme
Lineare und nichtlineare Relationen zwischen Bildern

erscheint in: Kunstforum international, 3/2001.

Der Absehbarkeit technischer Entwicklungen steht eine große Unsicherheit über deren kulturelle Anwendung gegenüber. Dass die Übertragungsraten der Netze im Lauf des nächsten Jahrzehnts so ansteigen werden, dass ein Bilderstrom in akzeptabler Qualität jeden Nutzer oder Betrachter erreicht, ist ein Gemeinplatz der neuen Techno-Utopisten. Die Schlacht um Standards, Software und Marktsegmente wird sich in das Reich der Bilder verlegen. Was aber genau in und mit den Bildern geschehen wird, bleibt offen. Um aller Unwägbarkeiten zum Trotz einige kulturtechnische Randbedingungen aufzuzeigen, erweist sich der Gegensatz von Linearität und Nichtlinearität als ein hilfreiches Begriffspaar.

Wie in jedem mehrdimensionalen Datenkörper treten auch in Bildern verschiedene Arten von linearen, eindimensionalen Strukturen auf. Zwei Sorten lassen sich grundsätzlich unterscheiden: solche in der Bildfläche und solche in der Zeit. Linien jeder Art sind Linearitäten in der Fläche. Einfach verknüpfte, nacheinander ablaufende Bildfolgen spielen in der Dimension der Zeit, wie etwa die Reihe von Bildern auf einem Zelluloidfilm.

In jedem Bildmedium sind bestimmte Linearitäten oder Nichtlinearitäten technisch angelegt, mit denen kulturelle Standards einen bestimmten Umgang etablieren. Zum Beispiel setzt die Hypertext Markup Language (HTML) Buchstaben, ein Form flächiger Linearitäten, dazu ein, um in der Dimension der Zeit Verzweigungen zu setzen und Entscheidungen abzufragen. Die zeitbezogenen Nichtlinearitäten in Bildern sind in dem Maß wichtiger geworden, in dem parallele Bilderströme verfügbar wurden. Je mehr Bilder man parallel abrufen kann, desto drängender wird das Problem, wie diese miteinander verknüpft, angeboten und ausgewählt werden können.

Ein kurzer historischer Durchlauf zeigt, wie der Gegensatz von Linearität und Nichtlinearität den Umgang mit Bilddaten bestimmt. Es sind nicht allein Medien, die Linearitäten in Licht und Bilder setzen. Jedes Bild, das wir als mehrdimensionale, in Fläche und Zeit ausgedehntes Feld von Farbeindrücke wahrnehmen, ist bereits eine Konstruktion, die die tatsächliche Sinnesleistung des Auges übersteigt. Der menschliche Blick erfasst nie die ganze Fläche, sondern mit voller Schärfe nur den recht kleinen Bereich der Sehgrube (fovea centralis), die mit einem Winkel von etwa 1,4o nur einen sehr geringen Teil des gesamten Sichtfeldes abdeckt. Um ein vollständiges Bild zu generieren, huscht der Blick von Punkt zu Punkt. Aus der Folge fokussierter Punkte wird dann ein illusionäres Gesamtbildes konstruiert. 1991 hat die Künstlergruppe Art&Com mit der Arbeit „Zerseher" diesen Prozess aufgegriffen, indem sie einen Betrachter vor einem Bild platzierten, dessen Blickrichtung erfassten, um dann in dem betrachteten Bild genau jene Stellen zu zerstören, die er gerade fokussierte. (3 Bilder) Die Zeit, die der Blick benötigt, um ein Bild zu erfassen ist von großer Bedeutung, sobald Bilder in der Zeit laufen. Noch 1918 forderte der Filmkritiker Homer Croy, bei Schnitten einige schwarze Bilder einzufügen, um die Augen zu entlasten. Etwa zeitgleich setzte sich in der Filmindustrie der „unsichtbare" Schnitt durch, der unter anderem deshalb nicht als Bruch registriert wird, weil man versucht, den Punkt der Aufmerksamkeit auf derselben Stelle und in derselben Bewegung zu halten.

Solange die Bildmedien die Zeit nicht umfassen, sind solche zeitkritische Effekte der Wahrnehmung unerheblich. Linearitäten finden dann in der Bildfläche statt. Nicht erst der Kunsthistoriker Wölfflin hat das Gegensatzpaar von linear und flächig als Grundbegriff stilkritischer Unterscheidung aufgebracht. Der Streit um Linie oder Fläche bestimmt seit jeher Debatten um malerische und zeichnerische Verfahren. Kulturhistorisch erweist sich die Linie als eine Schnittstelle, die in die Fläche der Bilder eine Art von Information einzuschreiben erlaubt, die die beiden Dimensionen der Fläche überwindet, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Linien lassen sich im Bild beinahe beliebig vervielfachen, kreuzen, kombinieren - in einem streng mathematisch gedachten Sinn sogar unendlich, da Linien als eindimensionale Elemente idealerweise keine Breite haben, in der Praxis nur so lange, bis sie die Fläche füllen. Mit Hilfe von Linien können auf der Bildfläche Muster von definierten Zeichen entworfen werden, seien sie nun durch Richtung und Länge oder durch Gleichheit, Wiederholung und Differenz bestimmt. Die Schrift und die Perspektive sind die beiden entscheidenden linearen Kulturtechniken, die den Horizont des Bildes erweitern. Die Perspektive konstruiert ein Liniennetz so, dass sich entlang der Linien, ihrer Längen und Kreuzungspunkte ein Verhältnis räumlicher Tiefe konstruieren lässt. Die Technik der Schrift setzt Linien längenunabhängig ein, um in Form der Buchstaben einen Vorrat von unterscheidbaren Mustern zu generieren. Auf der beschriebenen Seite sind zwei lineare Ordnungen ineinander gefaltet. Im kleinen Maßstab formen die Linien Buchstaben. Im ganzen Bild oder auf der Seite beschreiben die Zeichen jene durchlaufende Linie, die den Lauf der Leserichtung festlegt. Wie in einer Art von Peano-Kurve füllt die Linie der Lektüre die Fläche. (Bild Peano.jpg) Gerade der Rückzug auf die Linearität macht es möglich, dass sich das lineare Medium der Schrift in der Fläche des Bildes mit der linearen Folge der gesprochen Sprache treffen. Aber es gibt auch den anderen Fall einer nicht-linearen Verteilung von Buchstaben, wenn sie etwa in Tabellen oder Formeln auf der Fläche verteilt sind, um nicht der Lektüre, sondern einem anderen Modus der Zeichenverteilung zu entsprechen - etwa dem Rechnen. Zwischen den linearen und den nichtlinearen Codierungen der Bildfläche gibt es verschiedene Kombinationen - etwa in der Kartographie, der technischen Zeichnung oder der typografischen Gestaltung.

Über einen streng zeitlichen Sinn von Linearität - also nicht nur als beliebig ablesbare Folge wie etwa in Tempelfriesen oder Comics, sondern als getakteten Ablauf - verfügen Bilder erst, seit der Augenblick das Maß ihrer Herstellung oder Vorführung ist. Die Festlegung auf eine standardisierte, getaktete Bildfrequenz - bei Edisons frühen Kinematoskopen schon 48 Bilder pro Sekunde, bis zur Einführung des Tonfilms variabel zwischen 12 und 20, dann normiert 24 - erlaubt es, Ereignisse in einer technisch definierten Zeit abzubilden. Das Filmbild stellt einen dreidimensionalen Körper dar, mit den Dimensionen Höhe, Breite und Zeit.

Dieser Körper wird, mehr noch als die Fläche, von verschiedenen Linearitäten durchkreuzt. Wo und wie diese Linearitäten konstruiert, definiert und adressiert werden können, hängt unter anderem davon ab, wie Bildersignale codiert werden. Zwischen Film und den digitalen Bildern vollzieht sich eine technische Entwicklung, in diskrete Codierungen nach und nach die analogen Teile der Bildsignale übernehmen. Beim Zelluloidfilm erstreckt sich die zweidimensionale, analoge Abbildung der Fotografie über eine lineare, diskrete Folge in der Zeit. Das Fernsehen reduziert Film auf ein eindimensionales Signal, indem es das einzelne Bild zeilenweise einliest - genaugenommen unterteilt in zwei Halbbilder von geraden und ungerade Zeilen aufgeteilt. Dabei codiert der Zeilensprung die Dimension der Höhe diskret statt analog, so daß sich ein lineares, analoges Signal mit den zwei ineinander gefalteten diskreten Dimensionen der Höhe und der Zeit ergibt. Digitale Bilder schließlich quantisieren auch noch die letzte analog codierte Dimension und erhalten so den vollständig digitalen dreidimensionalen Bildkörper.

Etwas zu codieren, bedeutet nicht nur, es umzuwandeln, sondern auch, von jedem Zugriff auf die Daten dieselbe Codierung zu fordern. Codierung greift in die Produktionsweise von Bildern fundamental ein. Gerade an der Linie lässt sich das beobachten. Malerei realisiert Linien als Striche im Bild. In der Fotografie verschiebt sich die Stelle der Linie vor die Kamera, wie etwa in dem klassischen Dreipunkt-Licht als Verfahren, Konturen zu betonen. Digitale Bilder stellen den zeichnerischen Zugriff auf die Bildfläche wieder her, da in jedem Bild wieder jeder Punkt exakt veränderlich ist. Linien allerdings werden zum Problem, da sie nicht analog als Gerade von Punkt zu Punkt, sondern aus einzelnen, miteinander zusammenhängenden Punkten zusammengesetzt sind. Und zu einem weiteren Problem wird auch der fotorealistische Standard der Abbildung. So hat die Digitalisierung des Films paradoxerweise die manuelle Arbeit vervielfacht und in der Postproduction eine ganze Palette traditioneller malerischer Tätigkeiten wieder neu entstehen lassen.

Anders als in der Bildfläche spielen sich zeitbezogene Nichtlinearitäten als vergleichbar einfache Entscheidungen auf einer Dimension ab. Entweder die einfach verkettete Liste der Bilder läuft linear weiter oder sie wird verzweigt. Dass Film 24mal in der Sekunde unterbrochen wird, ändert an dessen Linearität wenig. Solange nur feststeht, welches Bild nach dem anderen kommen, ist die Kette linear. Erst wenn mehrere Bilder gleichzeitig zur Auswahl stehen, liegt eine Nichtlinearität vor. So wie der Film im Kino gezeigt wird, ist er linear. Im Schnittraum dagegen muss der Cutter die standardisierte Zeitfolge unterbrechen, um Bilderstreifen nebeneinander anordnen, betrachten und auswählen zu können. Einen Film zu machen, ist ein Spiel mit Linearität und Nichtlinearität, mit geschlossenen Einstellungen, Übergängen, Anschlüssen. Stets unterbricht der Moment der Verzweigung den zeitlichen Ablauf. Das zeigt schon die frühe Technik des Stoptricks. In seinem 1897 erschienen Buch „The ABC of the Cinematograph" rät der britische Filmer Cecil Hepworth seinen Kameraleuten, bei Ereignissen, die zu lang für eine Filmrolle sind, die Kamera zwischendurch anzuhalten, um nur die entscheidenden Momente aufzunehmen. Edisons Kameraleute setzen das Verfahren in frühen Filmen ein, der Franzose Georges Méliès wird dafür berühmt. Als filmischer Standard setzt sich dagegen eine Verteilung von Nichtlinearitäten durch, die genau des Gegenteil des Stoptricks ist. Der Stoptrick erhält den Hintergrund, um das Objekt im Zentrum der Aufmerksamkeit zu manipulieren. Der unsichtbare Schnitt versucht, das Zentrum der Aufmerksamkeit zu erhalten, kann aber im Bild alles verändern, solange die Montage nur den Eindruck eines „flüssigen", ungestörten Übergangs hinterlässt. In der Praxis setzt sich dieser Schnitt zeitgleich mit der Entstehung der großen Studios und der Umstellung der Produktion nach rationellen, tayloristischen Organsiationsprinzipien. Damit verschiebt sich die Verfügung über Nichtlinearitäten in den Schnittraum. Keine Verfügung über die Nichtlinearitäten hat auf jeden Fall immer der Betrachter, vor dem die Bilderfolge linear und vorbestimmt abläuft, solange er im Kino sitzt.

Erst mit dem Fernsehen, der Vielzahl der Bildkanäle und dem Zapping wird die lineare Geschlossenheit der kinematographischen Form abgelöst - und zwar gleich von verschiedenen Seiten. Die Sender unterbrechen Filme, um Werbeblöcke einzufügen, und die Zuschauer schalten zwischen Programmen umher. Wenn die Summe des Zappings als Einschaltquote an die Sender zurückläuft wird, schliesst sich eine Rückkopplung, die kürzer ist, als die Box-Office-Zahlen des Kino. So konnte sich in Brasilien hat sich ein Showformat etablieren, bei dem sich die Ereignisse in Minutenschnelle einem statistisch errechneten Betrachter anpassen lassen, weil die Einschaltquoten nicht nur täglich, sondern in Echtzeit ermittelt werden - mit den zu erwartenden Folgen.

Mit den digitalen Bildern springt diese Entwicklung um einen weiteren qualitativen Schritt, der sich wiederum gleichzeitig an verschiedenen Stellen bemerkbar macht. Nicht nur haben sich die diskreten Elemente - eben jene Sollbruchstellen, an denen Entscheidungen im Bilderfluß ansetzen können - über alle Dimensionen des Bildes ausgedehnt, sondern ebenfalls unterstehen diese Bilder fortan nicht mehr einer Einweg-Kommunikation, die nur die Auswahl zwischen verschiedenen Programmen zulässt, sondern einem variablen Entscheidungsablauf, der mehr oder weniger tief in die Herstellung eingreift. Am Einsatz von Nichtlinearitäten lässt sich eine kleine Genealogie der schon existierenden und zu erwartenden Formate entwickeln.

Von zwei Seiten treten die Bruchstellen auf. Zum einen zeigen Bilder eben ihre diskrete „Wahrheit" nicht mehr nur 24mal in der Sekunde, sondern in jedem der Millionen von Bildpunkten, die nun ebenfalls diskret geworden sind und damit als Blöcke, Grafiken oder Formen gebündelt, adressiert und in Entscheidungsprozesse integriert werden können. Zum anderen ändert sich die Stelle des Betrachters grundlegend, seit es Maus und Joystick als Schnittstellen gibt, die nicht mehr wie die Tastatur Buchstaben angibt, sondern statt dessen Koordinaten im Bild adressieren. Nichtlinearitäten in Zeit und Entscheidung verknüpfen sich mit der Bildfläche, so wie sie über die neuen Interfaces erreichbar wird. Ein anschauliches Beispiel einer solchen Entwicklung ist der Standard des Worldwide Web, der einzelne Bildbereiche als Verweise auf andere Bilder markiert. Dass HTML dabei auf Schrift und eine sehr eingeschränkte grafische Gestaltung begrenzt ist, schuldet sich einer Übertragungskapazität, die es lange nicht erlaubte, Bilddaten oder auch Klangdaten in der nötigen Auflösung zu transportieren. In dem Maß, in dem die Übertragungskapazitäten wachsen, werden Bilderströme und akustische Daten wichtiger. Der neue Trend heißt Streaming - was einfach damit zusammenhängt, dass die Übertragungsrate sich der Echtzeitkapazitäten von Ausgabegeräten und Nutzern annähert. Im Akustikbereich haben die Ströme mit dem Standard MP3 schon begonnen zu fließen. Und auch die Bilderströme sind absehbar oder auch teils mit den entsprechenden technischen Einbußen an Größe und Qualität als Webcasting oder Web-TV bereits verwirklicht. Der Gang der Dinge scheint so kalkulierbar, dass die neuen Techno-Utopisten ihn aus allen Kanälen unisono pfeifen. Tatsächlich liegt in dem Begriff des „Strömens" ein Stück historische Wahrheit - wir treten aus einer Kultur, deren Ökonomie und Gebrauchsformen sich an ihren Speichermedien orientiert hat, in eine andere, die über Speicher verfügt, deren Inhalte sich fortwährend ändern und in denen Geschichte sich höchstens wie die Rückkopplungsschleife eines FlipFlop installieren lässt.

Es ist nicht ganz leicht, abzusehen, an welchen Stellen Nichtlinearitäten auftreten, wenn Bilder Teil des Datenstroms werden. Der Absehbarkeit einer technischen Entwicklung steht eine kulturelle Kontingenz entgegen. Man kann wohl berechnen, was sich alles übertragen lässt, steht aber ratlos vor der Frage, was übertragen wird. Den Anfang machen fraglos die alten Medien, der Name Web-TV erfüllt genau die Vorgabe Marshall McLuhans.

Der oft euphorisch angekündigte Übertritt ins Universum der technischen Bilder steht aber kaum an. So mutet die Rede vom „iconic" oder „pictorial turn", der den Bildern in einer Wiederaufnahme des alten Paragone-Streits eine Überlegenheit über die Schrift zuweist, als voreilig an. Das gern pauschal zitierte Argument, dass „ein Bild mehr als tausend Worte sagt", lässt sich auch gegen die Bilder kehren - für den Fall nämlich, dass man wenig sagen will, das aber schnell und eindeutig. Dann erweist sich, dass Schrift und Sprache gerade wegen ihrer linearen Struktur nicht nur konkurrenzlos leicht binäre Entscheidungen übermitteln, sondern damit auch das umfassende Feld sprachlich konventionalisierter Bedeutungen erreichen. Vieles spricht dafür, dass auch künftig Information, die logisch operiert - also sowohl der überwiegende Teil des Wissens, wie auch Entscheidungen und Programme - nicht anders als schriftlich codiert sein wird. Auch wenn dank der technischen Entwicklung zweifelsohne auf Kosten von Schrift mehr und mehr Bilder verteilt werden, behalten beide Codierungen auf lange Sicht ihren Platz, je nachdem, auf welche Kontexte, Entscheidungen und Handlungen sich ein Datenstrom bezieht.

Sowohl die Linearitäten des Bilderstroms als auch die Stellen der Nichtlinearität geben vor, wie die kommende kulturellen Formate beschaffen sein könnten. Sie legen fest, wo etwas unterbrochen werden darf, an welcher Stelle Entscheidungen in den Strom eingreifen, welche Zusammenhänge zwischen Bildern erzeugt werden können und welchen Ort dabei Betrachter und Produzenten einnehmen. Das Begriffspaar taugt allerdings nur begrenzt zur Vorhersage, denn die ökonomischen, medialen und politischen Wechselwirkungen machen das Geschehen turbulent. Indessen zeichnen sich manche Formen schon jetzt ab und manche Fragen lassen am Modell der Nichtlinearitäten erst deutlich entwickeln.

Mit den Computerspielen etwa hat sich ein kulturelles Format etabliert, in dem per Maus an Bildern getroffene Entscheidungen unmittelbar wieder in die nächsten Bilder eines generierten Bilderflusses umgesetzt werden. Je nachdem, ob es um zeitkritische Ego-Shooter oder entscheidungskritische Strategiespiele geht, sind Nichtlinearitäten und Verzweigungspunkte im Bilderfluss unterschiedlich verteilt. Die Interaktivität solcher Games spielt in einem Netz von Linearitäten: der aus einem Liniengerüst gerechnete Raum bietet jene Entscheidungen über Wege und Ziele an, die nach den Reaktionen des Spielers wieder zurück in den Rechner fließen, der daraus wiederum die nächsten Bildfolgen berechnet. Das System ist ein von Linearitäten umschriebener Zirkel wechselseitiger Kontingenz, in dem ein linearer Rahmen die möglichen Ereignisse generiert und an Ketten von „if-then" Befehlen nichtlineare Verzweigungen offenhält - zeitgleich im Programmablauf und im konstruierten Raum. Die bildliche Logik der Spiele kann sich im Rechner schließen, weil die Bilder berechnet sind.

Auf die Bilder der Außenwelt fehlt dagegen ein vergleichbarer Zugriff. Die Macher des künftigen Netzfernsehens orakeln über kürzere Formate, mehr Interaktion, mehr Wechselwirkung - und malen sich damit eine Fortsetzung der Fernsehgeschichte aus. Orientiert man sich an den Verteilungen von Nichtlinearität, so wird deutlich, dass das, was für Computerspiele gilt, auch für künftige Bildbrowser denkbar ist. Programme können im Bild Objekte zur Entscheidung anbieten, seien es andere Bilder, Gegenstände oder ein Menü. Die Verzweigungen müssen nicht zeitlich verteilt sein, sondern können Zeit wie etwa jetzt schon in der Anzeige der TV-Fenster selbst verwalten. Die Logik der Verzweigungen bezieht sich dann sowohl auf die Zeitpunkte im Bilderstrom wie auch auf bildliche Inhalte.

Seit Ende der 80er Jahre wird an visuellen Zugriffsmodi geforscht, die nicht nur generierte, sondern auch von außen in den Rechner importierte Bilder einander zuordnen. Das sogenannte „Image Retrieval" arbeitet an einer visuellen Parallele zu den Suchmaschinen, die bislang vor allem wortbasiert arbeiten. Man hofft, eben jenes Reservoir an visueller Information erschließen zu können, das heute noch in der Notwendigkeit sprachlicher Adressierung eingeschlossen zu sein scheint. Es lassen sich grob zwei Verfahren unterscheiden: wenn Begriffe und deren Ordnungsfunktionen zu Hilfe genommen werden, spricht man vom „content-based" - inhaltsbasierten - Verfahren. Arbeitet man ausschließlich mit Bildern oder Regionen von Bildern als Eingabe der visuellen Suche, so handelt es um „similarity-based image retrieval" - ähnlichkeitsbasierte Bildsuche. Beide Verfahren haben Vor- und Nachteile: wortbasierte Suche findet in den Bildermengen all das, was man als schriftlichen Inhalt kennt, erschwert es allerdings, Bilder automatisch zu erfassen. Ähnlichkeitsbasierte Modelle stehen vor dem Problem, Ählichkeiten zu entwerfen, die tatsächlich verwertbare Informationen erzeugen, können dafür aber Bilder automatisch indizieren.

Tatsächlich zeigt sich bei einem Vergleich der beiden Suchverfahren, wie sehr der Umgang mit Bildern sich an begrifflich gedachten Inhalten orientiert - mit nur wenigen Ausnahmen erscheinen die Ergebnisse von ähnlichkeitsbasierter Bildrecherche als „unsinnig". Ihre Ordnungen erzeugen keinen Anschluss. Bleibt es bei diesen Verhältnis, so kann man davon ausgehen, dass sich auch die Linearitäten in Bilderströmen nach einem Muster organisieren, das von Namen und Begriffen geprägt wird. Aber es gibt Argumente, die gegen eine solche sprachbestimmte Bildkultur sprechen. Denn wo kein Mangel mehr an Speichern herrscht, entscheidet sich Erinnerung nicht an dem, was vorliegt, sondern an dem, was gefunden wird. Und dann bestimmen Suchmaschinen, was Erinnerung heißt. Geht man mit Michel Foucault davon aus, dass das Archiv das Gesetz dessen ist, was gesagt werden kann, und nicht umgekehrt herum, dann wird die Utopie eines visuellen Wissens, eines visuell verzweigten Bilderstroms denkbar. Wie man sich diese Suchoperationen in einem laufenden Bilderstrom vorzustellen hat, bleibt offen.

In herkömmlichen Medien jedenfalls fällt die Verteilung von Linearität und Nichtlinearität im allgemeinen mit den Mustern von Narrativität zusammen. Die Narration erzeugt in der klassischen Struktur von Anfang, Mitte und Ende eine linear durchlaufende Folge, an deren beiden Enden Nichtlinearitäten Fortsetzungen zur Auswahl stellen. Im Fernsehen haben sich dabei andere Linearitäten etabliert als im Kino - die feste Länge des Kinofilms verteilt sich auf episodenhafte Serien in wöchentlicher Wiederholung. Web-TV-Propheten vermuten, dass diese Zeiteinheiten noch kürzer werden, je mehr parallele Ströme verfügbar sind - so als würde die Notwendigkeit, auf allen Kanälen aufmerksam zu sein, das Zeitlimit des Users beschränken. Tatsächlich aber scheinen andere, auch nicht-zeitliche Modi von Anfang und Ende denkbar. In vielen Computerspielen bestimmt der Raum die Verteilung von Nichtlineariät. Man beginnt an einer Stelle zu rennen und zu schießen und ist fertig, sobald alle in einem eingegrenzten Gebiet befindlichen Spieler und Monster erledigt sind. Und auch das Surfen im Netz bietet zuwenig Redundanzen und Formate an, als dass sich bislang ein fester Zeitrahmen zu etablieren vermochte. Das ändert sich möglicherweise, wenn es tatsächlich gelingt, in den „Portalen" wieder den alten Modus des „Programms" durchzusetzen, wie man es aus den Sendemedien kennt.

Wenn sich aber erfüllt, was technisch angelegt ist, werden die Nichtlinearitäten in der Zeit mit den Entscheidungspunkten im Bild zusammentreffen. Und dort sind weitere Entwicklungen zu erwarten, die sowohl komplexere Entscheidungen als auch die Auswahl eines Ziels visuell anbieten könnten. Auf jeden Fall wird die Navigation in den Bilderströmen mit Nichtlinearitäten zusammenhängen - einerlei ob sie bestehende importiert - etwa aus dem Fernsehen - , um sich daran zu orientieren, oder ob sie neue erzeugt, wie in Computerspielen oder Image-Retreival-Verfahren. Das Zeitlimit bildlicher Nichtlinearitäten, der Moment von Entscheidung und Verzweigung, findet in der physiologischen Linearität des Blicks eine Grenze. Weil das Auge nun einmal nur den geringsten Teil des Bildes tatsächlich sieht, kosten Vergleiche und Entscheidungen in Bildern Zeit. Man kann davon ausgehen, dass auch in den angedrohten Fluten standardisierte Verteilungen von Linearitäten und Nichtlinearitäten, von Bilderfolge, Unterbrechung und Entscheidung etablieren. Vielleicht wäre es denkbar, ein Gleichgewichtsmodell zu formulieren, das die Verteilung von Brüchen und Folgen, von Erwartung und Unsicherheit, von Linearität und Nichtlinearität in Bildmedien wie in stabilen Planetenbahnen beschreibt - aber dieses Modell wäre kaum mehr als eine Fiktion von etwas Linearen, wo doch viele, keineswegs linear miteinander verknüpfte Faktoren das Feld durchkreuzen.